Drüben bei blooDNAcid auf den Scienceblogs, der gerade über die Wichtigkeit der Masernimpfung schrieb, tauchte In den Kommentaren bald ein Impfgegner auf und behauptete, dass es überhaupt keine Viren (und natürlich auch kein HIV) gebe und Grippeimpfungen schuld an der Spanischen Grippe 1918 waren. Die mehrfache Klarstellung anderer Poster, dass es die Grippeimpfung aber erst seit 1936 gibt, wird dabei geflissentlich ignoriert.
Und auch danach geht es munter weiter mit tiefsitzender Wirklichkeitsverleugnung. Wenn man es mit solchen Hardcore-Realitätsverweigerern zu tun hat, wünscht man denen ja gelegentlich die Krankheit an den Hals, damit diese am eigenen Leib erfahren können, was es bedeutet, krank zu sein. Die sollen doch in eine Quarantänestation gehen und dort mal tief einatmen.
Auch wenn es zutiefst unethisch ist: ein solches “Experiment” wurde tatsächlich schon einmal durchgeführt.
Pockenepidemie in Boston
Als eine Pockenepidemie 1901 in Boston ausbrach, versuchte man mit aller Kraft, der Krankheit Herr zu werden. Kranke kamen in Quarantäne und Impfstationen wurden eingerichtet, in denen die Einwohner sich gratis impfen lassen konnten. Bis Dezember 1901 wurden mehr als 400.000 Einwohner Bostons (von etwa 560.000) geimpft.
Aber das reichte nicht. Schließlich erließ das Gesundheitsamt eine Verordnung, dass jeder zu impfen sei. Aber Impfgegner gibt es ja schon seit es das Impfen gibt und die “Anti–Compulsory Vaccination League” versuchte, diese Verordnung per Gesetz verbieten zu lassen. Langen Kampf kurz gefasst: Die Vernunft siegte. Die Verordnung wurde über die Epidemie hinaus bis zum Obersten Gerichtshof der USA bekämpft, der schließlich 1905 mit sieben zu zwei entschied, dass der Staat Pflichtimpfungen zum Wohle der Gesellschaft anordnen kann.
Durgins unethisches Angebot & Pfeiffers Arroganz
Während der Epidemie forderte der Vorsitzende des Gesundheitsamtes, Durgin, die Impfgegner heraus, mit denen er sich schon harte Gefechte geliefert hatte und die er zutiefst verabscheute. Er machte ihnen das Angebot, doch ungeimpft ihre Überzeugungen zu beweisen. Ein höchst unethisches und dummes Angebot, im vollen Bewusstsein der Konsequenzen unterbreitet. Durgin war überzeugt, dass sie alle sterben würden und wollte dies als Lektion nutzen.
Tatsächlich meldete sich einer seiner “Hauptfeinde”, Dr. Immanuel Pfeiffer, und suchte an, ein Pocken-Hospital zu besuchen. Pfeiffer war ein überzeugter Kämpfer für die Freiheit des Einzelnen und gab eine eigene Zeitschrift mit angeblich 10.000 Lesern heraus. Themen waren Sozialismus, Vegetarismus, Anti-Krieg, Reine Nahrung (Pure Foods), Frauenrechte, Therapeutische Suggestion (Hypnose), “Single Tax” (alle Steuern abschaffen bis auf eine Grundbesitzsteuer), Medizinische Freiheit, Kapital und Arbeit und selbstverständlich Impfgegnerschaft.
Pfeiffer lehnte jede Form organisierter Medizin ab und glaubte, dass ein gesunder Mann die Pocken nicht bekommen könne. Impfungen seien wirkungslos und er setze lieber auf Diät und Hypnose, um Krankheiten abzuwehren.
Durgin machte wie versprochen eine Ausnahme und Pfeiffer durfte ungeimpft die Pockenstation eines Krankenhauses besuchen. Er traf dort auf mehr als 100 Patienten und der zuständige Arzt riet ihm sogar, doch den Atem eines Patienten zu riechen. In seiner Arroganz verständigte Pfeiffer auch die Presse in mehreren Briefen von seinem Besuch und gab ein Interview. Er war völlig überzeugt, immun zu sein.
Pfeiffers Verschwinden und Krankheit
Die Pocken haben eine Inkubationszeit von etwa 12-14 Tagen und in dieser Zeit durfte sich Pfeiffer frei bewegen. Durgin hatte allerdings nicht völlig den Verstand verloren und ließ ihn überwachen. Doch am dreizehnten Tag verschwand Pfeiffer. Die Zeitungen und die Öffentlichkeit waren wegen der laxen Sicherheit entsetzt und Durgin kam unter Druck, weil er die Öffentlichkeit mit dieser dummen Aktion in Gefahr gebracht hatte. Auf die Frage, ob er denn das Richtige getan habe, als er Pfeiffer den Zutritt gestattete, antwortete er, es sei “das Beste für die größtmögliche Anzahl Menschen” gewesen.
Pfeiffer wurde kurz darauf auf seiner Farm in Bedford außerhalb Bostons aufgespürt. An den Pocken erkrankt. Die Medien überschlugen sich und schrieben, dass er wahrscheinlich sterben werde.
In der Ortschaft Bedford war der Aufruhr ebenfalls groß. Auch dort waren viele Leute gegen das Impfen eingestellt, doch als Pfeiffer krank darnieder lag, mochten ihn seine Nachbarn plötzlich nicht mehr so und viele ließen sich impfen. Sie waren verärgert, weil er sich als Kranker nicht in Boston behandeln ließ, sondern stattdessen in ihr Städtchen floh.
Die Stadt Bedford überlegte andererseits, auch Boston zu verklagen, da durch unentschuldbare Fahrlässigkeit der Gesundheitsbehörden die Pocken in Bedford eingeschleppt wurden.
Einen Tag, nachdem Pfeiffers Erkrankung bekannt wurde, startete Boston eine weitere Impfaktion. Die 125 Mitarbeiter trafen auf wenig Widerstand und alles ging reibungslos. Die Schlagzeile “Impfgegner stirbt wahrscheinlich an Pocken” hatte den Impfwillen massiv gestärkt.
Realitätsverweigerung par exzellence
Dr. Pfeiffer änderte seine Ansichten natürlich nicht. Der Presse gegenüber sagte er später, wäre er nicht so extrem übermüdet gewesen, wäre er überhaupt nicht krank geworden. Die Krankheit selbst sei lachhaft gewesen, er habe die meiste Zeit Karten gespielt. Auch ein anderer Impfgegner jener Zeit meinte, dass Pfeiffer außer Form und überanstrengt sei. Wahrscheinlich wäre er auch krank geworden, wenn er das Krankenhaus nie besucht hätte.
In einem Telefoninterview, das Dr. Pfeiffers Sohn einen Monat nach dem Krankheitsausbruch gab, erläuterte dieser, dass seine und seines Vaters Ansichten sich nicht geändert hätten. Er selbst sei zwar geimpft geworden, aber es habe bei ihm nicht funktioniert und sei sowieso nutzlos. Außerdem sei er die ganze Zeit bei seinem Vater gewesen und habe diesen gepflegt, seit er krank geworden sei und habe trotz des engen Kontakts während dessen Erkrankung keinerlei Krankheitssymptome verspürt.
I was vaccinated as a matter of form and in compliance with the desire of the local authorties. My vaccination did not take and I don’t think it was of any benefit. I have been with my father, personally attending him almost constantly since he became ill, and I can say positively that I have felt no ill effects from my close contact with him during his illness
Es ist interessant zu bemerken, in welchem Ausmaß Menschen zur Realitätsverweigerung fähig sind. Wenn selbst die eigene Erkrankung sie nicht wachrütteln kann, wie sollen das Diskussionen in einem Blog tun?
Pfeiffer wurde später Präsident der “American Psychic Society” und hielt Vorträge, wie man mit dem Geist die Physis beherrschen könne.
Durgin wurde zwar für sein Vorgehen zu Recht kritisiert, aber da niemand starb und es zu keinen weiteren Ausbrüchen um Pfeiffer kam, dieser außerdem verspottet und die Stadt durchgeimpft wurde, schrieb der Boston Herald: “Chairman Durgin comes up smiling”. 1912 ging er im Alter von 73 Jahren in Pension, vom Gesundheitsverband für seine Bescheidenheit, Bereitschaft zum lebenslangen Lernen und Verdienste für die Medizin hoch gelobt.